Der See
Das Boot wippte leicht unter seinen Ruderschlägen.
Sonja saß am Heck und wippte mit.
‚Gar nicht so ungefährlich', dachte er.
‚Wie leicht könnte sie hinausfallen.
Sie hält sich nicht einmal richtig fest.'
Langsam ruderte er weiter.
Es wurde dunkel.
Hell war es schon nicht mehr gewesen, als sie losgerudert waren, aber nun verlor sich langsam der letzte Lichtschein hinter dem Wald, der das Ufer säumte, auf das er zuhielt.
An Sonja vorbei sah er das Ufer, von dem er abgelegt hatte.
Dort stand ein Auto, bei dem jetzt das Standlicht eingeschaltet worden war.
Sonja sagte immer noch nichts.
Das störte ihn nicht.
Er hatte ihr ohnehin nicht mehr viel zu sagen.
Eigentlich hatte er nie viel mit ihr gesprochen.
Jetzt erst fiel ihm das auf, und auch, wie verschieden sie beide doch waren, in ihren Ansichten, in ihrer Art zu leben und wie verschieden sie die Welt sahen.
Die letzten Sonnenstrahlen ließen Sonjas grüne Augen noch einmal aufblitzen.
Er ruderte schneller.
Ganz kurz hatte sich wieder ein Zweifel eingeschlichen, ob er das Richtige tue.
Kräftig zog er die Ruder durch, und das kleine Boot schwankte unter seinen Stößen.
Von den Ruderblättern fortfliegende Tropfen spritzen auf Sonjas leichtes Sommerkleid, doch sie nahm keine Notiz davon, sondern sah ihn unverwandt an.
‚Ob sie etwas ahnt?' dachte er.
‚Ach was, woher denn', versuchte er sich zu beruhigen.
Er fragte sich, ob sie jemals realisiert hatte, was in ihm vorging.
‚Wahrscheinlich nicht.'
Er wusste es ja selber nicht genau.
Wie sollte es dann Sonja wissen?
Zu weit entfernt war ihre Heimat, ihre Sprache, ihre Kultur, um ihn zu verstehen.
Sonja war ja nicht einmal ihr richtiger Name.
Er hatte sie so genannt, und sie hatte es erduldet, wie sie so vieles anderes erduldet hatte, nur um hier bei ihm zu sein.
‚Tja. Bei mir oder doch eher „hier“?’ fragte er sich.
‚Eigentlich egal', dachte er.
‚Horst hat schon Recht. Lieber ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende.'
Nie würde jemand diese fremde Frau an seiner Seite akzeptieren.
Er würde sie zu keiner Betriebsfeier mitnehmen können und nicht ins Kino oder mit ihr shoppen gehen oder was sie vielleicht sonst gerne täte.
Und seinen Eltern würde er sie auch nie vorstellen können.
Er lachte leise.
Seine Eltern.
Vor allem seine Mutter mit ihrem alles überragenden Wunsch nach Enkeln und wann es denn endlich soweit sei - und dann käme er mit dieser Frau.
Seine Mutter würde einen Herzinfarkt bekommen und dann in Ohnmacht fallen.
Oder umgekehrt.
Seine Mutter war theatralisch sehr begabt.
Sein Vater würde ihn wahrscheinlich aus dem Haus werfen mit der Bemerkung, erst wiederzukommen, wenn er eine "anständige Frau" mitbrächte.
Sonjas Augen verloren ihren grünen Glanz.
Er erinnerte sich an die Zeit, als er sie "ausgesucht" hatte nach ein paar Bildern und Beschreibungen, die er mit seinen paar Brocken Englisch kaum verstanden hatte.
Für ihn schien es die Erfüllung eines Traumes zu sein, genauso wie für sie, nur dass ihr Traum ein anderer war als seiner.
‚Was nutzt ein Traum, wenn man ihn nicht leben kann', dachte er.
‚Wenn man ihn ständig verstecken muss. Dann ist das kein Traum mehr. Dann ist das ein Alptraum.'
Mittlerweile war das kleine Boot in der Mitte des Sees angekommen.
Er hatte zum Schluss nur noch sehr kraftlos gerudert und war deswegen kaum vorangekommen.
Der See war groß, und er war auch sehr tief.
Hier, in der Mitte, bildeten sich kleine Wellen, und das Boot tanzte ein wenig auf ihnen.
Es schwankte noch stärker, als er zum Heck zu Sonja ging, und es hätte nicht viel gefehlt, dann wäre er ins Wasser gefallen.
‚Was für eine Ironie', dachte er.
Er lächelte aber nicht dabei.
Als er sich vor Sonja stellte, bewegte sie sich nicht mehr, als sei sie eingeschlafen.
Dann ging alles ganz schnell, wie mechanisch, wie eine Tätigkeit, die er schon tausendmal getan hatte und die in ihrer Routine nicht mehr ins Bewusstsein vordringt.
Viel leichter, als er es sich vorgestellt hatte, fiel ihr Körper ins Wasser.
Sofort ging sie unter.
Das helle Sommerkleid sah er noch kurz in dem dunklen Wasser, dann sank auch dieses mit Sonja in die Tiefe.
‚Sie hat sich nicht einmal gewehrt', dachte er.
Er hatte das dringende Bedürfnis nach einer Zigarette oder einem Glas Whisky, aber er hatte weder das eine noch das andere mit.
So setzte er sich wieder auf die Ruderbank und ruderte auf das Auto mit dem schwach glimmenden Standlicht zu.
Der Rückweg schien eine Ewigkeit zu dauern, aber er hatte es nicht eilig, und als er am Auto ankam, war es Nacht geworden.
"Du hast es erledigt?" fragte Horst.
"Ja", antwortete er.
Er stand noch neben dem Auto und schaute auf den See, als das Boot schon verladen war und Horst den Motor gestartet hatte.
"Nun steig schon ein!"
"Ja, gleich", antwortete er.
"Du bereust es doch wohl nicht?" fragte Horst.
"Nein."
"Es ist besser so."
"Ja, sicher."
"Schlimmstenfalls kannst du dir ja eine neue holen", lachte Horst.
"Ja. Im schlimmsten Fall."
"Ey, Alter", schubste ihn Horst an. "Es war nur eine Liebespuppe."
"Ja", antwortete er. "Nur eine Liebespuppe."
©Isi 2017